„Oktopusse leben in allen Meeren, trotzdem wissen wir fast nichts über sie – nicht mal über die, die im Flachwasser leben. Für mich war jedoch die Verlockung der Tiefsee stets am größten. Du siehst dort Dinge, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat, das ist einfach… wow! Und der Dorado-Oktopus verkörpert dieses Unbekannte der Tiefsee wie kaum eine andere Art.
Du siehst dort Dinge, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat, das ist einfach… wow!
Ich hatte das Glück, im Laufe der Jahre bei 24 Expeditionen mit an Bord gewesen zu sein, mal mit ferngesteuerten, mal mit personenbesetzten U-Booten. Meine tiefste Tauchfahrt ging auf 3270 Meter Tiefe. Auf das, was du dort siehst, bist du nicht vorbereitet. All die leuchtenden Lebewesen um dich herum! Aber nur ganz selten mal siehst du dort unten einen Oktopus.
Doch dann postete der Geochemiker Geoffrey Wheat 2013 während eines Jahrestreffens von Leuten, die US-Tiefsee-Expeditionen geleitet haben, Fotos vom Meeresboden vor der Pazifikküste Costa Ricas. Er erforschte dort Stellen, an denen etwa zwölf Grad warmes Wasser aus Spalten tritt. Es zirkuliert zuvor in Hohlräumen der Erdkruste und ist deshalb rund zehn Grad wärmer als die umgebende Tiefsee. Wahrscheinlich gibt es Tausende solcher Warmwasserauslässe, von denen wir nichts wissen, weil die Tiefsee noch immer größtenteils unerforscht ist.
Ich konnte es kaum glauben, als ich auf den Fotos diese riesigen Oktopusse sah, bis zu 24 Zentimeter groß und in imposanten Ansammlungen. Ich dachte: No! Und schrieb sofort eine E-Mail an Wheat, der an den Tieren eigentlich gar nicht interessiert war. Er sagte, die seien dort überall. 2018 veröffentlichten wir die Fotos und einen
Report im Journal ‚Deep Sea Research‘
.
Das Medienecho war riesig.
Wheat versprach mir, den Ort mit mir gemeinsam zu besuchen, und so stachen wir 2023 – nachdem Anträge und Förderung genehmigt und die Pandemie überstanden waren – mit dem Schmidt Ocean Institute zur ‚Octopus Odyssey‘ in See. Ein ferngesteuertes U-Boot sammelte mit seinem Greifarm einige Exemplare ein, die wir mit ins Labor in Costa Rica nahmen. Dort habe ich sie mit einer Kollegin vermessen, seziert und alle Merkmale beschrieben, die Anordnung der Saugnäpfe zum Beispiel. Bis eine neue Art formal anerkannt ist, können Jahre vergehen. Andere Fachleute begutachten deine Arbeit, und das dauert. Inzwischen sind wir uns sicher, dass die Art neu für die Wissenschaft ist, aber sie hat noch keinen offiziellen Namen. Solange die Ergebnisse nicht veröffentlicht sind, nennen wir sie einfach Dorado-Oktopus – nach dem Fundort Dorado Outcrop.
Wovon sich die Tiere ernähren, wissen wir nicht. Der einzige Hinweis ist ein Video von einem Walskelett, das 2020 in der Tiefsee vor der Küste von Kalifornien aufgenommen wurde. Dort sind mehrere Exemplare einer dem Dorado-Oktopus ganz ähnlichen Art zu sehen, Muusoctopus robustus. Sie fraßen dort vermutlich Flohkrebse, die sich wiederum von dem toten Wal ernährten. Solche abgesunkenen Walkadaver spielen in der Tiefsee als Nahrungsquelle eine extrem wichtige Rolle.
Am Dorado Outcrop sind die Oktopusse aber nicht, um zu fressen, sondern um ihre Eier auszubrüten, die die Weibchen an Überhänge und Wände der Felsspalten heften. Oktopusmütter lieben es, mit ihren Armen ihre Eier zu berühren. Offenbar entwickeln die sich in dem warmen Wasser besonders gut und schnell. Warum, ist noch unklar, vielleicht leben dort irgendwelche Mikroben, die eine positive Wirkung haben.
Mich stört es nicht, dass es so vieles gibt, was wir noch nicht wissen. Im Gegenteil: Das macht die Forschung spannend. Dass es diese Dorado-Oktopusse gibt, kam für mich völlig unerwartet – und deshalb liebe ich sie. Hunderte große Kraken in 3000 Metern Tiefe? Das hat mich einfach umgehauen. Es zeigt, dass dort unten noch viel mehr sein muss, über dessen Existenz wir nicht einmal spekulieren können.
Pläne zum Tiefseebergbau erfüllen mich deshalb mit großer Sorge. Es ergibt keinen Sinn, all die unbekannten Tiere der Tiefsee den damit verbundenen Risiken und Verschmutzungen auszusetzen, nur um uns zu immensen Kosten Mineralien zu sichern.“
Protokoll: Wolfgang Hassenstein

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