Wenn alles egal ist

Die schwarz-rote Bundesregierung hat sich vom Klimaschutz weitgehend verabschiedet. Indem sie, angefeuert von den fos­silen Industrien, den Rückwärtsgang einlegt, setzt sie die Zukunft des Landes aufs Spiel. Eine Abrechnung

Illustration eines erhobenen Mittelfingers in Form einer Zapfpistole
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Fred Grimm
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Sébastien Thibault
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Vielleicht ist diese neue Idee der Bundesregierung dann doch genau die eine Umdrehung zu viel: in ihrer klimapolitischen Absurdität gleichermaßen zynisch und korrupt, ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung Zukunft. Vielleicht ist sie aber auch einfach nur ehrlich. Denn wenn Deutschland ab 2027 im Rahmen des EU-Emissionshandels Strafzertifikate für zu viel ausgestoßene Treibhausgase kaufen muss, weil dann auch der Verkehrs- und der Gebäudebereich mit eingerechnet werden, sollen diese aus dem Topf bezahlt werden, der eigentlich für „Transformation und Klimaschutz“ vorgesehen ist. Fachleute gehen davon aus, dass dies Deutschland allein bis 2030 weit über fünfzig Milliarden Euro kosten kann.

Klimaschäden aus dem Klimaschutztopf bezahlen – zynischer geht es nicht

Die Strafen für zu hohe CO2-Emissionen aus dem Etat für mehr Klimaschutz zu bezahlen, darauf muss man erst einmal kommen. Aber der 2010 eingeführte „Klima- und Transformationsfonds“, der „zusätzliche Maßnahmen“ zur „Erreichung der Klimaschutzziele“ fördern soll, ist unter der schwarz-roten Bundesregierung zur traurigen Parodie verkommen, zum Selbstbedienungsladen für die fossilen Industrien und ihre Unterstützer. Aktuell holt sich zum Beispiel Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) 3,4 Milliarden Euro aus dem Klimafonds, um die gestiegenen Gaspreise für Industrie und Privathaushalte abzufedern. Die Gasanbieter freuen sich. Gleichzeitig werden die Bundesmittel für die energetische Sanierung von Gebäuden 2026 um zwei Milliarden Euro gekürzt.

Es fällt nicht leicht, bei all den Maßnahmen und öffentlichen Äußerungen, mit der sich die schwarz-rote Koalition zehn Jahre nach Abschluss des Pariser Klimaschutzabkommens vom Sinn und Geist des Vertrags verabschiedet, den Überblick zu behalten. Innerhalb weniger Tage fordern Markus Söder (CSU) und Friedrich Merz (CDU) das Aus für den EU-weiten Abschied vom Verbrennermotor; zerlegt Wirtschaftsministerin Katherina Reiche die Energiewende und behauptet ihr für Landwirtschaft zuständiger Unionskollege Alois Rainer wider alle wissenschaftlichen Erkenntnisse: „Der Fleischkonsum hat mit dem Klimaschutz nichts zu tun.“ Nebenbei orchestrieren die Bundesverbände der Industrie und der Automobilwirtschaft, die Industrie- und Handelskammer sowie ihre medialen Claqueure eine Kampagne, die zum gefühlt hundertsten Mal Arbeitsplätze und Wohlstand gegen Klimaschutz und ökologische Innovationen ausspielen soll. Anfang Oktober fasste eine prominent platzierte Schlagzeile auf Bild.de diese Verdrehungen zusammen: „Der Klima-Sozialismus muss weg, wenn unsere Kinder in Deutschland eine Zukunft haben sollen.“ Dass die fossile Blockadehaltung hierzulande bis 2050 bis zu 900 Milliarden Euro für erwartbare Klimaschäden kosten dürfte, wie unter anderem die Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung (GWS) prognostiziert, ficht die Freunde von Kohle, Benzin und Gas nicht an.

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Gas geben, Autobahnen bauen

Noch immer belohnt unser Wirtschaftssystem die Zerstörung der Umwelt und die Ignoranz gegenüber dem Klimawandel. Wer Gas aus dem Wattenmeer holt, Pestizide ins Grundwasser bringt oder benzintrunkene Zweitonner-SUV in die Straßenschlacht schickt, kann sich darauf verlassen, dass auch Ökostromkundinnen, Biokäufer oder Fahrradfreundinnen mit ihren Steuern für die Schäden aufkommen müssen. An – zusätzlichen – Fördergeldern für klimaschädliche Unternehmen und Projekte hat Schwarz-Rot jährlich bis zu 15 Milliarden Euro im aktuellen Bundeshaushalt veranschlagt, rechnet eine von der Klima-Allianz und Germanwatch in Auftrag gegebene Analyse vor. In dieser Perversion der Marktwirtschaft, die ökologische Folgekosten vergesellschaftet statt sie einzupreisen, gerät das System aus Angebot und Nachfrage aus den Fugen. Sechzig Prozent der verkauften Pkw werden inzwischen als „Firmenwagen“ oder „Dienstwagen“ subventioniert: Ein künstlich aufgeblasener Markt, der den Kauf klimaschädlicher Schwergewichte und ihre Vielfahrer steuerlich fördert, während die innovationslahme deutsche Autoindustrie immer noch kein günstiges, massentaugliches E-Mobil im Angebot hat. Mittlerweile wenden sich viele Unternehmen von ihren eigenen Klimaschutzinitiativen ab. Eine Umfrage ergab, dass die Hälfte von ihnen die Ausgaben dafür im kommenden Jahr zurückfahren will. 17 Prozent haben ihre Dekarbonisierungsmaßnahmen sogar ganz zurückgestellt.

Das 500 Milliarden Euro umfassende „Sondervermögen“, also die Neuverschuldung, mit der das Land eigentlich zukunftsfit gemacht werden soll, entpuppt sich als Förderprogramm für wirtschaftliche Aktivitäten, die der Allgemeinheit schaden. Für Autobahnen und Bundesfernstraßen sind immer noch Milliarden für Neubau und Planung veranschlagt, bei rapide steigenden Preisen. Mittlerweile kostet ein Autobahnmeter wie bei der A 100 in Berlin 225.000 Euro. Gleichzeitig arbeitet die bundeseigene Deutsche Bahn an massiven Kürzungen beim Regional- und Güterverkehr sowie Plänen für drastische Preiserhöhungen. Die langfristige Finanzierung des immer teureren Deutschlandtickets bleibt dagegen ungewiss. Vom Ausbau des ÖPNV ist auch keine Rede mehr, geschweige denn von einem leistungsfähigen Radwegenetz.

Dagegen fließt das Geld für die Rüstung wie der Champagner in den entsprechenden Vorstandsetagen. Zwar kann bis heute im Verteidigungsministerium niemand erklären, warum die Bundeswehr, die schon vor dem Ukrainekrieg über den vierthöchsten Etat der Welt verfügte, nicht mal genug Munition zum Üben hat und die Kasernenduschräume schimmeln. Aber statt die „Kosteneffizienz“ bei der Beschaffung anzugehen, die demnächst erbarmungslos an jedes noch so kleine Solarmodul angelegt werden soll, gibt es weiterhin Carte Blanche für Rheinmetall und Freunde. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass trotz aller Milliarden am Ende keine modern bestückte Bundeswehr steht, die Mindestanforderungen in avancierter Luftverteidigung, digitaler Kriegsführung oder beim Einsatz von Drohnen erfüllt, sondern nur ein schwerfälliges Arsenal, das den Rüstungskonzernen die höchsten Profite garantiert.

Der Fokus auf Technologien von gestern und das Hätscheln der Firmen, die von ihnen profitieren, scheint auch das Leitmotiv beim Umgang mit der Energiewende zu sein. Bei der Vorlage des „Energiewende-Monitorings“ verkündete Wirtschaftsministerin Katherina Reiche, der Ausbau der Erneuerbaren müsse sich künftig „an den Netzen orientieren“ und nicht umgekehrt. Ganz so, als wäre nicht der fahrlässig verschleppte Netzausbau seit Jahren das größte Hemmnis für den Siegeszug des klimafreundlichen Ökostroms. Direkt zum Amtsantritt der CDU-Politikerin wurde das Wort „Klimaschutz“ aus dem Ministeriumsnamen entfernt. Seither heißt Reiches Reich „Ministerium für Wirtschaft und Energie“, womit vor allem die Renaissance der Fossilen gemeint sein dürfte. Von bis zu vierzig neuen Gaskraftwerken sprach die Ministerin gleich zu Beginn ihrer Amtszeit. Bei einem Auftritt vor Deutschlands wichtigsten Industrievertretern gelobte sie, „den Business Case (der Erneuerbaren) noch mal nach unten“ zu bringen. Dafür wird im Energie­wende-Monitoring ihres Ministeriums der zukünftige Strombedarf im Land systematisch kleingerechnet, auf 600 Terawattstunden bis 2030 – was nur dann eine realistische Größenordnung wäre, wenn sich bis dahin weder Wärmepumpen noch Elektroautos nennenswert verbreitet hätten.

Illustration eines fabrikähnlich-qualmenden Rasenmähers in grüner Landschaft

Sinnbildlich für die neue Sabotagehaltung des Ministeriums gegenüber den Erneuerbaren sind die seltsamen Prognosen zum Ausbau der Batterie- und Großspeicher im Land. Sie sind elementar, damit die Versorgung mit Solar- und Windenergie auch dann funktioniert, wenn es dunkel oder windstill ist. Laut Reiches Beamten bleibt die gesamte Speicherkapazität bis 2035 konstant. Laut Bundesnetzagentur hat sie sich dagegen allein 2024 verdoppelt. Die Branche spricht von einem Boom beim Ausbau, von einem „Tsunami“ möglicher Kapazitäten. Bei den Netzbetreibern stapeln sich Anträge für die Anschlüsse solcher Energiespeicher mit einer Gesamtleistung von bis zu 500 Gigawatt. Das wäre rechnerisch mehr als das Fünffache der derzeitigen Spitzenlast im deutschen Stromnetz.

Doch so „technologieoffen“ möchte die Bundesregierung dann offenbar doch nicht sein. Überhaupt erinnern Reiches Einlassungen frappierend an das Papier „Energiewende 2.0“, das die Energiekonzerne RWE und E.ON im März gemeinsam vorgelegt hatten. Im Nachhinein: eine Art To-do-Liste für die „ökofeindlichste Regierung seit zwei Jahrzehnten“ (Die Zeit), die seither brav im Sinne der fossilen Energieprofiteure abgearbeitet wird. Fast scheint es, als habe Neu-Ministerin Reiche, bis zum Amtsantritt Geschäftsführerin der E.ON-Tochter Westenergie, nur das Büro gewechselt, aber nicht den Job.

Gefangene ihrer Ideologie

Das Ausmaß des Klimawandels und seine Folgen überfordern jeden und jede. Die in atmo No 4 beschriebenen planetaren Kipppunkte mögen sich nüchtern lesen, aber sie verweisen auf gewaltige, kaum fassbare Herausforderungen. Im Zentrum steht die simple Erkenntnis, dass jede zusätzlich in die Atmosphäre entlassene Tonne Treibhausgase eigentlich schon eine zu viel ist und wir einen radikalen Wandel unserer Wirtschafts- und Lebensweise bräuchten, eine Jahrhundertaufgabe.

Eine Einsicht, die eigentlich Anlass wäre für einen Moment der Demut bei Unternehmensvorständen ebenso wie im politischen und medialen Betrieb: Ein ehrliches Eingeständnis der Überforderung, aus dem die Kraft für ein neues Gemeinschaftsprojekt erwachsen könnte. Aber noch regieren und reagieren die politisch Verantwortlichen als Gefangene einer Ideologie, die sich mit den Fakten nicht mehr in Einklang bringen lässt. Kern dieses dutzendfach widerlegten Wunderglaubens, alles werde schon irgendwie gut, wenn nur die Superreichen von Steuern und die Unternehmen von möglichst vielen Regeln entlastet würden, ist eine Staatsverachtung, die beinahe hysterische Züge trägt.

Wer den Staat im Kern so verachtet wie Friedrich Merz, kann mit echter Klimaschutzpolitik nichts anfangen

Weil sich ja der Staat am besten überall raushalten soll, ist der gedankliche Weg zu einer gesamtgesellschaftlich orientierten Planung und Gestaltung der ökologischen Wende für Friedrich Merz und Co. so weit. Aber es ist vor allem die demonstrative Ambitionslosigkeit, die das Gebaren der derzeitigen Bundesregierung so unerträglich macht. Dass mit „starren Jahreszahlen“ und „starren Zielen“ allein kein Klimaschutz zu machen sei, erklärt einem die Ministerriege beinahe täglich. Der Bundeskanzler selbst erzählt gern, es nütze doch „überhaupt nichts, wenn wir allein in Deutschland klimaneutral werden“. Als ob eine moderne, klimaneutrale Wirtschaft mit sauberem Wasser und sauberer Energie, so wie sie in anderen Staaten längst gelingt, dem Land schaden würde.

Das Sowohl-als-auch beim Klimaschutz, also irgendwie schon, aber irgendwie auch lieber nicht, hat bei Merz Tradition. Als er vor Jahren mal in einer Talkshow von der Klimaaktivistin Luisa Neubauer an die Wand argumentiert wurde, entgegnete er: „Wir müssen natürlich die Klimaforscher ernst nehmen, aber wir müssen auch die Ökonomen ernst nehmen.“ Vielen Menschen in Deutschland, die tatsächlich eins und eins zusammenzählen und zwischen Ökonomie und Klimaschutz keinen Gegensatz erkennen können, würde es schon reichen, wenn Merz’ Regierung wenigstens die Juristinnen und Juristen achten würde.

Der Internationale Gerichtshof in den Haag verfügte diesen Sommer, dass sämtliche Staaten der Welt völkerrechtlich zum Klimaschutz verpflichtet sind. Wer diesen Pflichten nicht nachkommt, kann gegenüber den vom Klimawandel besonders betroffenen Ländern sogar zur Kompensation verdonnert werden. Es gelte das Verursacherprinzip. Und bereits 2021 hat das Bundesverfassungsgericht in einem wegweisenden Urteil die Rechte kommender Generationen auf mehr Klimaschutz in der Gegenwart festgeschrieben.

Es wies die damalige Regierung Merkel an, für sämtliche Sektoren – also Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft, Abfallwirtschaft und Sonstiges – verbindliche Jahresziele beim Klimaschutz zu formulieren und einzuhalten. Davon hatte sich schon die SPD-Grünen-FDP-Koalition verabschiedet – was fünf Umweltverbände sowie mehr als 50.000 Privatpersonen zu einer erneuten Klage veranlasste. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch das Klimaschutz-Luftschloss der aktuellen Bundesregierung im kommenden Jahr vom höchsten Gericht verworfen wird.

Im Juli diesen Jahres hatte die Körberstiftung eine Umfrage dazu veröffentlicht, wem die Bundesbürgerinnen und -bürger am meisten vertrauen. Ganz vorn lag die Wissenschaft mit 71 Prozent, gleich dahinter das Bundesverfassungsgericht mit 56 Prozent. Die Bundesregierung steht bei 19 Prozent Zutrauen, der niedrigste gemessene Wert aller Zeiten.