Der Fenchel hätte schon vergangene Woche aus der Erde gemusst: Groß wie eine Männerhand ist er, einige Pflanzen blühen bereits. An diesem Montagmorgen hocken Isabel Matos Naranjo und Kollegen im würzig duftenden Acker bei Egenhofen, rund vierzig Kilometer westlich von München. Es ist Ende Juni, neun Uhr früh, das Thermometer klettert über zwanzig Grad. „Wird wohl heiß heute“, sagt Naranjo, wischt schweißnasse Haarsträhnen aus der Stirn und trennt mit einem scharfen Messer das Grün von den geernteten Knollen.
Seit vier Monaten macht die Zwanzigjährige eine Ausbildung in der Biogärtnerei, die den einprägsamen Namen „Kartoffelkombinat“ trägt. Gemüseanbau kannte sie bis dahin nur aus Gärten ihrer Großeltern in Sachsen und Kuba. „Viele Freunde fanden meine Entscheidung seltsam“, sagt sie. Mit Fachabitur hätte sie auch bei einer Bank oder im Einzelhandel anfangen können. Doch Naranjo ist glücklich: „Lebensmittel anzubauen, und dann auch noch so wie wir hier: Das ist doch wohl das Sinnvollste auf der Welt!“


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„Weiter geht’s!“, ruft ein Kollege mit Strohhut über das Feld. Er lädt den Fenchel auf einen Traktor. Als Nächstes ist Spitzkohl dran, danach Zucchini – frische und ökologische Ernte der Region für Genossinnen und Genossen: 2300 Münchner Haushalte, rund 6000 Menschen. 13 Jahre nach Gründung ist das Kartoffelkombinat Deutschlands größte solidarische Landwirtschaft, kurz Solawi. Finanziert wird die Genossenschaft durch Beiträge der Mitglieder. Die decken nicht nur den Anbau des Gemüses, sondern auch Reparaturen, Investitionen, Logistik, Verwaltung, Personal und sogar mögliche Ernteausfälle. Mit dieser direkten Beziehung zwischen Erzeuger und Abnehmerin, ohne Zwischenhändler und Supermarktketten, fordert die Solawi-Genossenschaft das Prinzip der gewinnorientierten Lebensmittelwirtschaft heraus. „Wir wollen zeigen, dass die Versorgung der Bevölkerung auch anders geht“, sagt Daniel Überall, 47 Jahre alt, Mitbegründer und Vorstand des Kombinats. „Nachhaltig und ohne Ausbeuterei.“

Der Fenchel vom Feld muss sauber werden. Nach und nach schieben ihn zwei Mitarbeiter in eine Waschstraße. Danach übernimmt das Packteam in der Lagerhalle: Zu viert verteilen sie die Knollen in grüne Kisten, ebenso Salat und Spitzkohl. Zudem holen sie Minigurken aus einem kleinen Kühlhaus sowie Agretti, ein Salzkraut, das ein Partnerbetrieb liefert. Einer fotografiert das Ganze für die Website und den Social-Media-Auftritt des Kombinats. Die Gemüsekiste kostet 78 Euro im Monat und wird wöchentlich geliefert. Hinzu kommt ein einmaliger Genossenschaftsanteil von 150 Euro.
Zum Einstieg gibt es eine mehrwöchige Testphase: „Damit die Menschen uns kennenlernen und probieren können, ob festgelegtes, saisonales Gemüse zu ihnen passt“, erklärt Überall. Einigen ist die Auswahl, besonders im Winter, zu einseitig, wenn zum Beispiel zu viel Kohl dabei ist. Manch Single schafft es nicht, so viel Gemüse allein aufzuessen. Andere sind begeistert.

In Deutschland sind Solawis eine Erfolgsgeschichte: Gab es lange nur eine einzige in Schleswig-Holstein, gründete sich 2011 das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft aus elf Projekten. Heute schätzt das Netzwerk die Zahl der Solawis im Land auf mehr als 600. Die meisten arbeiten mit Landwirtinnen und Landwirten zusammen, denen sie die Abnahme der Ernte garantieren. So war es anfangs auch beim Kartoffelkombinat. Doch 2017 bot sich die Chance, in Egenhofen ein ehemaliges Baumschulgelände zu kaufen und dort die Gärtnerei aufzubauen. Die Genossenschaft griff zu, rund die Hälfte der Mitglieder kaufte dafür weitere Genossenschaftsanteile. Das Kombinat erstand Traktoren, renovierte die Gewächshäuser und ließ ein altes Gebäude für Büros und Aufenthaltsräume sanieren. Derzeit plant es ein Rückhaltebecken für Regenwasser.
Solidarisch, aber ohne Pflicht zur Mitarbeit
Während viele kleinere Solawis auf regelmäßige tatkräftige Hilfe ihrer Mitglieder auf den Feldern angewiesen sind, ist die beim Kombinat keine Pflicht. In der Gärtnerei arbeiten fest angestellte Gärtnerinnen und Gärtner. Sie bewirtschaften mehr als 25 Hektar Freiland, drei Gewächshäuser und sechs Folientunnel, in denen zum Beispiel Auberginen und Spinat wachsen. Gut fünfzig Gemüsesorten säen, pflanzen und ernten sie. Hinzu kommen Helfer in Teilzeit, Minijobberinnen, zwei Auszubildende, Packerinnen und Packer, sieben Fahrer sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Münchner Büro – zuständig für IT, Buchhaltung, Logistik und Kommunikation. Außerdem Daniel Überall und seine Vorstandskollegin Jana Hohberger. Ohne diese Struktur, so sind die beiden überzeugt, ließe sich die Versorgung so vieler Mitglieder nicht stemmen. Doch das starke Wachstum der Genossenschaft zur heutigen Größe gefällt nicht allen. „Für mich braucht es eine Mindestanzahl an Mitstreitenden, um wirklich etwas bewegen zu können“, argumentiert hingegen Hohberger. „Wir wollen keine kleine Gruppe Glückseliger bleiben, sondern das System verändern!“, findet auch Überall.
„Für mich braucht es eine Mindestanzahl an Mitstreitenden, um wirklich etwas bewegen zu können.“
Jana Hohberger
Andernorts funktioniert die Idee in noch größerem Maßstab: In Japan, wo die Solawi-Idee in den Siebzigerjahren aufkeimte, versorgt das „Teikei“-System heute Millionen Menschen mit ökologischem Obst und Gemüse. In den USA profitieren Hunderttausende von der „Community Supported Agriculture“. In Südkorea verbindet die Genossenschaft „Hansalim“ mehr als 2000 Bauernhöfe über Kooperativen und Bioläden mit mehr als einer halben Million Haushalten.
Solche Zahlen liegen für das Kartoffelkombinat noch fern. Doch schon um wöchentlich ausreichend frisches Gemüse an Tausende Münchner Haushalte zu liefern, ist präzise Planung nötig. Das ist Benny Schöpfs Aufgabe. Er ist Gärtnermeister und Anbauleiter des Kombinats.
An diesem Montag kommt Schöpf gegen Mittag nach Egenhofen. 42 Jahre alt, kurze braune Haare, Bart, müder Blick. „Meine kleine Tochter ist krank“, erklärt er. Dann startet er – wie an jedem Wochenanfang – mit zwei Kollegen einen Rundgang zu allen Kulturen: Sie kontrollieren das Wachstum des Mangolds, spähen unter die Netze des Blumenkohls, checken die Bodenfeuchte. „Morgen kommen neuer Fenchel, Bundzwiebeln und Lauch an“, sagt Schöpf zu seinem Freiland-Teamleiter und blinzelt auf die Wetter-App seines Handys, das die Sonne reflektiert. „Vielleicht schaffen wir es ja, die Setzlinge direkt einzupflanzen. Danach soll es regnen.“ Der Kollege nickt.

Bei ihrer Tour über die Felder passieren die Genossenschaftsgärtner immer wieder bunte Blühstreifen, die auf insgesamt einem Hektar zwischen den Gemüsereihen stehen. Über ihnen flattern Schmetterlinge, fliegen Hummeln und Bienen. „Damit fördern wir die Artenvielfalt“, erklärt Schöpf. „Und viele Insekten helfen uns, indem sie Schädlinge fressen, bevor die unser Gemüse befallen.“ Pflanzen wie die violett blühende Phacelia verdrängen zudem Unkraut. Mit ihren bis zu achtzig Zentimeter tiefen Wurzeln lockert sie den Boden auf – eine natürliche Feldkur.
Auf den Äckern des Kartoffelkombinats landet kein synthetischer oder tierischer Dünger. Die Gärtnerinnen und Gärtner setzen in ihrer Fruchtfolge auf Leguminosen wie Klee, Erbsen oder Bohnen, die Stickstoff aus der Luft binden und so den Düngebedarf des Bodens verringern. Zudem bauen sie Kleegras an, das sie silieren oder trocknen und als Dünger oder feuchtigkeitsspeichernden Mulch unter die Buschbohnen, Gurken und Tomaten in den Gewächshäusern bringen.
Eine Frage, eine Reise, eine Antwort
Für seinen Einsatz im Dienst der ökologischen Landwirtschaft wurde Benny Schöpf im vergangenen Jahr in Brüssel ausgezeichnet – als „bester Biobauer Europas“. Eine Bestätigung für ihn, dass er sich vor 16 Jahren richtig entschieden hat. Damals arbeitete er als Informatiker für einen Industriebetrieb. Gut bezahlt, doch er begann, die Gesellschaft und das System, in dem wir leben, zu hinterfragen, reiste nach Indien. „Ich wollte das Rad des Kapitalismus, das so viel Leid erzeugt, nicht länger antreiben“, sagt er. Er kündigte. Machte ein Praktikum in einer Einrichtung, in der er mit geistig behinderten Menschen gärtnerte. „Ich war plötzlich so erfüllt“, erinnert sich Schöpf, der sich zunächst dort und später beim ersten Bauern, mit dem das Kombinat zusammenarbeitete, zum Gemüsegärtner ausbilden ließ.
Jeden Herbst rechnet Schöpf mit seinem Team aus, wie viel Saatgut das Kombinat braucht, wo und wann Brokkoli, Kartoffeln, Kürbisse wachsen sollen, damit sie rechtzeitig in den Kisten der Genossinnen und Genossen landen. Künftig würde er die Ernteanteile gern flexibler gestalten: „Wenn jemand ein Gemüse nicht verträgt oder es gar nicht mag, soll er es abbestellen können.“ Wisse er das frühzeitig, lasse sich das bis zu einem gewissen Grad umsetzen.
Ein stadtweites Netz aus mehr als 130 Verteilpunkten
Dienstagmorgen, halb sieben. Maximilian de la Rosée öffnet die Tür zur Ladefläche des weißen Transporters und lädt ein – fast 170 Kisten, jede etwas mehr als fünf Kilo schwer. Viermal pro Woche, zwischen Dienstag und Freitag, fährt er zusammen mit Kolleginnen und Kollegen das Gemüse nach München. Mehr als 130 Verteilpunkte gibt es in der Stadt: private Garagen, Buchläden, Architekturbüros. Allein in dem Kellerraum eines Bioladens im Stadtteil Sendling stapelt de la Rosée sechzig Kisten. Als er die letzten mit der Sackkarre durch die engen Gänge des Ladens balanciert, kommt schon die erste Genossin: eine junge Mutter mit Kind, das sofort genüsslich in eine Gurke beißt.

Maximilian de la Rosée ist selbst Kombinatsmitglied. Er hatte gerade sein Brauwesen-Studium abgeschlossen, da suchte die Genossenschaft dringend Fahrer. „Es sollte ein Übergangsjob sein“, sagt er, „jetzt sind es schon zwei Jahre.“ Gemeinsam mit zwei Mitgliedern startete der 34-Jährige ein weiteres Projekt: ein eigenes Kartoffelkombinat-Biobier. Vier Sude haben sie bereits in Zusammenarbeit mit Brauereien hergestellt. Dieses Jahr gibt es zum ersten Mal eine alkoholfreie Variante, von der bereits alle Kisten vorverkauft sind. „Wir wollen zeigen: Bier ist nicht nur ein Genussmittel, sondern auch ein landwirtschaftliches Produkt“, sagt de la Rosée. Der konventionelle Anbau von Hopfen und Gerste oder anderem Getreide für die Herstellung von Malz habe wegen des hohen Einsatzes von Spritz- und Düngemitteln viele negative Folgen – für Grundwasser, Böden und die Gesundheit der Bäuerinnen und Bauern. „Doch Biorohstoffe sind auf dem Markt bis heute rar.“
An anderer Stelle hat sich schon mehr getan: Lag der Bioanteil am gesamten Lebensmittelumsatz vor 15 Jahren noch bei drei Prozent, hat er sich mittlerweile mehr als verdoppelt. „Einst musste man sich die Biomöhre in der hintersten Ecke des Reformhauses suchen“, sagt Überall. Inzwischen gibt es ein breites Biosortiment in fast jedem Supermarkt, auch bei Discountern. Ein Fortschritt. „Doch wo und vor allem unter welchen Arbeitsbedingungen werden diese Produkte produziert?“, fragt Überall. Zum Konzept des Kartoffelkombinats gehören daher faire Löhne. Die Gärtnerinnen und Gärtner verdienen im Schnitt 35 bis 45 Prozent mehr als branchenüblich, je nach Position im Team. Saisonkräfte gibt es nicht. Dafür seit Neuestem eine Betriebsärztin.
Trotzdem fehlt Personal. „Viele wissen kaum etwas über den Beruf – und das, obwohl er so wichtig ist“, klagt Schöpf über den Fachkräftemangel in der Branche. Eine praktikable Lösung aus Sicht der Genossenschaft: den eigenen Nachwuchs heranziehen. Sieben Lehrlinge hat das Team bereits ausgebildet, vier sind geblieben.
Auch in anderer Hinsicht machen sie sich beim Kartoffelkombinat Gedanken über das Wachstum: Nach Jahren des stetigen Zuwachses stagniert die Zahl neuer Genossinnen und Genossen. Steigende Lebenshaltungskosten lassen viele ihre monatlichen Ausgaben überdenken. „Zumindest sinken unsere Mitgliederzahlen nicht wie bei anderen“, sagt Daniel Überall. Aus seiner Sicht geht es jetzt darum, das Kartoffelkombinat noch bekannter zu machen. Auch außerhalb der Münchner Öko-Blase. Eine teure Werbekampagne, beim Wettbewerb eines privaten Radiosenders gewonnen, könnte helfen – der Spot läuft bereits. Oder Schulbesuche, um das Konzept der Solawis bekannter zu machen. So könne man die nächste Generation Genossenschaftsmitglieder erreichen, hofft Überall.
Große Träume und Visionen, aus denen die Initiative einst entstanden ist, gibt es noch immer: Neue Zweigstellen. Ein eigener Getreideanbau. Irgendwann ein eigener Supermarkt. Immer mit dem Ziel, noch mehr Menschen mit ökologisch erzeugtem Gemüse aus der Region zu versorgen. „Vielleicht naiv, daran zu glauben“, sagt Überall. „Aber es nicht zu versuchen – das könnten wir uns nicht verzeihen.“